Wenn man Trageberaterinnen fragt, würden viele von ihnen sofort sagen: Finger weg vom Vorwärtstragen! Wenn man die Eltern fragt (vor allem die Väter), dann sind mindestens genau so viele neugierig, ob und wie das mit dem Vorwärtstragen möglich ist. Und grundsätzlich finden wir es ja toll, wenn die kleinen Traglinge getragen werden und so in Mamas und Papas Nähe sind – egal in welche Richtung….oder doch nicht? Um das zu klären, haben wir uns mal angeguckt, warum wir mit dem Vorwärtstragen vorsichtig sein sollten. Außerdem haben wir mit zwei bekannten vorwärts-gerichteten Tragen den Praxistest gemacht und versucht ein Gefühl dafür zu bekommen, wie sich dies für Mama und Baby anfühlt.
Die Theorie – oder viele gute Gründe nicht vorwärts-gerichtet zu tragen
Eine Wirbelsäulenproblematik
Ihr wisst ja wie klein und rund sich die Babys im Bauch der Mutter zusammenrollen und wenn sie auf der Welt sind, ist die Wirbelsäule nach wie vor noch gerundet, um genau zu sein c-förmig. Sie richtet sich erst ganz langsam, über das erste Jahr hinweg, auf. Beim Vorwärtstragen kann sich das Baby nicht mehr an die Mutter anschmiegen und die C-Form wird gestaucht.
Zu viel des Guten
Wenn es dem Babys zu viel wird mit alle den Eindrücken, die es mit seinem rasend schnell entwickelnden Gehirn auf sich nimmt, dann kann es sich normalerweise beim Tragen an Mama/Papa kuscheln und einschlafen. Das geht beim vorwärts-gerichteten Tragen so nicht, sodass das Kind schnell völlig reizüberflutet werden kann und es unter enormen Stress steht.
Rückversicherung adé
Hinzu kommt, dass dem Baby noch nicht klar ist, ob die vielen neuen Eindrücke gut oder schlecht sind, ob sie Gefahr bedeuten oder nicht. Normalerweise orientiert es sich am Herzschlag, der Mimik und Gestik der Bezugsperson, doch wenn es diese nicht sehen kann, kann es sich auch nicht rückversichern (deswegen soll man übrigens auch das Kind lange nicht vorwärts-gerichtet im Buggy spazieren fahren)
Anhockspreizverhuddelei
Lange Zeit war es so, dass Kinder die vorwärts getragen wurden, aussahen, wie ein Seestern. Diese Haltung ist nicht nur schlecht für den Rücken, sondern auch für die so wichtige Hockspreizhaltung. Wie Ihr im Bild seht, kann das Baby die Beine nicht anhocken, was zu Fehlstellungen der Hüfte führen kann und später richtige Schwierigkeiten mit sich bringt.
Der eigene Rücken
Dadurch, dass das Baby nicht an Dich geschmiegt getragen wird, verlagert sich der Schwerpunkt und Ihr werdet schnell merken, dass es für den eigenen Rücken auf Dauer nicht sehr angenehm ist.
Die Praxis – oder warum die Realität nie schwarz oder weiß ist
Puh, das klingt ja nun wirklich nicht sehr angenehm…Wenn wir das lesen, müssten wir doch denken, dass das vorwärts-gerichtete Tragen eigentlich nur schlecht sein kann. Oder? So ganz richtig ist das auch nicht, denn die Realität ist nun einmal nicht schwarz oder weiß und nicht alle Babys sind gleich. Jede Mama und jeder Papa sollten genau auf die Entwicklung und die Persönlichkeit des Kindes achten und darauf, wie gut es mit äußerlichen Reizen zurechtkommt. Wenn das Baby es mag, ganz normal im Tuch oder der Trage getragen zu werden, dann ist das großartig. Dann gibt es sicher auch keine Notwendigkeit das Baby anders zu tragen. Überstreckt sich das Baby viel (Alternativ gehe damit auch ruhig mal zum Ostheopathen), ist ständig unruhig und versucht sich abzuwenden, dann kann man durchaus auch mal versuchen, es über kurze Strecken vorwärts zu tragen, vor Allem, wenn es dabei hilft die eine oder andere Sache zu erledigen.
Verlängerung Deiner Arme
Eigentlich ist es ja ganz einfach: Man sollte das Baby am besten so tragen, wie man es auch auf dem Arm hält, denn das Kind zeigt einem auf dem Arm eigentlich immer sehr deutlich, was es mag und was nicht. Gerade in den Zeiten um den 4. Monat (3-6-Monate) herum scheinen die Kleinen ganz besonders aufmerksam die Umgebung zu erkunden und werden oft auch im Arm gerne vorwärts getragen. Irgendwann wird aber auch jeder Arm mal müde und wenn es nun die Alternativen gibt, das Kind kurz in die Trage zu packen oder abzulegen, dann ist doch das Tragen, ob vorwärts oder nicht, die bessere 😉
Höre auf Dein Kind
Jedes Baby ist anders, darüber können Eltern von mehreren Kindern ein Lied singen. Und das bedeutet oft auch, für jedes Kind ein bisschen aus der Reihe zu tanzen und Möglichkeiten zu erkunden, die für alle ganz neu sind. Wenn Du Dich dazu entschließt das Baby vorwärts-gerichtet zu tragen, achte ganz besonders auf die Zeichen Deines Babys: wenn es unruhig wird, sich immer wieder zu Dir dreht oder sogar viel „spricht“, wenn Du das Gefühl hast dein Baby ist angespannt oder fühlt sich unwohl – egal ob nach 15 Minuten oder 5 Minuten – beende diese Tragezeit.
Lass es nicht vorwärts-gerichtet schlafen
Wenn das Baby eindöst, kann dies eine Reaktion auf eine Überstimulierung sein und es ist Zeit es aus der Trage zu holen. Auch ist der Kopf beim Vorwärtstragen nicht genug gestützt, sodass die Luftzufuhr nicht mehr optimal gegeben ist, wenn das Baby einschläft un der Kopf nach vorne kippt.
Überlege genau, wo Du vorwärts gerichtet trägst
Zuhause für eine kleine Weile das Kind vorwärts zu tragen, während wir den Abwasch machen, den Einkauf die Treppen hochtragen oder die Wäsche aufhängen, ist eine ganz andere, für das Kind wesentlich entspanntere Sache, als das Baby in einem überfüllten Einkaufscenter oder auf dem Bahnhof nach vorne gerichtet zu tragen. Seid also achtsam in der Wahl der Orte, an denen ihr das Kind noch vorne gerichtet tragt.
Frage eine Trageberaterin, was es für Alternativen gibt
Wir selbst sind keine Trageberaterinnen (!) und empfehlen grundsätzlich bei solchen Fragestellungen eine Fachperson zu konsultieren. Es gibt nämlich noch einige andere tolle Trage-Alternativen als vorwärts- und zum Körper gerichtet. So könnte z.B. das (hochgebundene) Tragen auf dem Rücken oder das seitliche Tragen durch einen Sling eine tolle Möglichkeit sein. Was alles geht und was zu Dir passt, kannst Du mit einer der vielen tollen Trageberaterinnen herrausfinden.
Was sagen die führenden Trageanbieter?
Der Klassiker unter den Fronttragen ist sicher der Babybjörn, der auch immer wieder in die harsche Kritik für die ungesunde Seesternhaltung der Babys gekommen ist. Mittlerweile hat sich auch bei Babybjörn einiges getan und sie haben eine Trage entwickelt, die nun auch die natürliche Anhockspreizhaltung der Babys unterstützt. Das vorwärts-gerichtete Tragen empfiehlt Babybjörn erst später:
„Wir empfehlen das Tragen mit dem Blick zu Ihnen, bis Ihr Baby ein Alter von mindestens fünf Monaten erreicht hat. Ab diesem Alter sind Nacken, Rücken und Hüften stark genug, sodass Sie Ihr Kind mit dem Blick nach vorn tragen können.“ (Quelle: http://www.babybjorn.de/kundenservice/#faq)
Ergo Baby hat mit seiner neuen Ergobaby 360 Komforttrage ein neus Modell herausgebracht, dass es erlaubt die Babys in 4 verschiedenen Positionen, so auch vorwärts, zu tragen. Sie gehen sogar noch einen Schritt weiter und schränken die Tragezeit ein und gehen auf die Reizüberflutung ein, was wir wirklich gut finden:
„Wir sehen die Fronttrageweise in Blickrichtung als eine zusätzliche Option für kurze und aktive Tragezeiten (10-15 Minuten) und nicht als Haupttrageweise über mehrere Stunden. Ab und zu kommen Situationen auf in denen Eltern und Kinder diese Position bevorzugen (beim Basteln, Backen,..). Natürlich besteht die Gefahr der Reizüberflutung in dieser Position eher, da das Kind sich nicht aktiv abwenden kann. (…) Wir sind uns sicher, dass Eltern Ihr Kind am Besten einschätzen können und genau wissen, wann es Zeit ist in eine andere Position (Bauch, Hüfte und Rücken) zu wechseln. (…) Unser Ziel ist es, Eltern zu ermutigen Ihre Babys so lange wie möglich zu tragen, immer in einer ergonomisch gesunden und komfortablen Weise. (Quelle: http://www.ergobaby.de/shop/baby-carriers/four-position-360?scrollTo=instructions/)
Und wie fühlt es sich nun an?
Wir haben natürlich auch sowohl den Babybjörn, als auch Ergo 360 getestet und festgestellt, dass beide Hersteller sich bemüht haben, die Anhockspreizhaltung bei den Tragen umzusetzen. Beim Testen war das Baby 5 und 7 Monate alt, war tendenziell entspannter und fand das Experiment aufregender, als die tragende Mutter. Über eine kurze Dauer hat das durchaus Spaß gemacht und kann eine nette Arm-Pause sein, für einen längeren Zeitraum fühlte es sich allerdings nicht richtig an, da einfach der Augenkontakt gefehlt hat (was natürlich eine ganz subjektive Präferenz ist). Das Kind sollte unbedingt in der Lage sein den Kopf zu drehen und mit Hilfe aufrecht sitzen, um sich einigermaßen selbstbestimmt in der Trage bewegen zu können. Was wir wirklich schön fanden, war, dass wir dem Kind auf Augenhöhe viele Dinge zeigen und mit ihm dazu erzählen konnte…vielleicht ist es sogar eine nette Möglichkeit mit dem Papa kleine kurzweilige Entdeckertouren zu machen.
Wir möchten mit diesem Beitrag nicht das vorwärts-gerichtete Tragen ausschließlich bewerben, sondern lediglich darauf hinweisen, dass es im echten Leben viele Facetten gibt, die sich in der Art des Tragens durchaus wiederspiegeln. Wenn das Vorwärtstragen aus diversen Gründen tatsächlich die einzige Tragealternative ist und bewusst mit dem dazu nötigen Wissen umgegangen wird, ist es doch noch immer besser als gar nicht zu tragen. Den Eltern, die vorwärtstragen, sollte mit Offenheit entgegnet werden, denn diese wissen doch in der Regel, was gut für ihre Kinder ist. Das A und O ist immer wieder auf die eigenen Kinder zu hören, achtsam mit den Signalen und Bedürfnissen umzugehen und dann ein praktikablen Weg zu finden, diese mit dem Alltag unter einen Hut zu bekommen…dies gilt eben auch für das Tragen 😉
Weitere Beiträge in englisch findet ihr hier:
http://shopzerberts.blogspot.de/2013/05/the-forward-facing-controversy.html
http://beltwaybabywearers.blogspot.de/2011/06/babywearing-triplets-forward-facing.html
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